Brüssel/Stuttgart – 300-mal süßer als Zucker, keine Kalorien, unbedenklich
für Diabetiker und gut für die Zähne: All diese traumhaften Eigenschaften
hat der Süßstoff aus der Pflanze Stevia. Im Dezember könnte er für
Lebensmittel innerhalb der EU zugelassen werden – jedoch nur als chemische
Variante.Ein Päckchen Badezusatz, eine Portion Tiernahrung oder Pulver
zur Herstellung von Kosmetik: Wer seinen Tee oder Joghurt in Deutschland mit
Stevia süßen will, muss sich bislang auf die nicht unbedingt legalen Tricks
der Anbieter in Internetshops und Reformhäusern einlassen. Denn Stevia ist
in Deutschland weder als Lebensmittel noch als Lebensmittelzusatzstoff
zugelassen. Deswegen darf es nicht für den Verzehr verkauft werden. Genau
dafür aber kaufen Verbraucher die auch Honigkraut genannte Pflanze bei
Online-Händlern, die auch Stevia-Kochbücher anbieten.Denn viele der Kunden verstehen nicht, warum die Süßstoffe aus der
Stevia-Pflanze in Brasilien, Japan, den USA und auch der Schweiz in
Lebensmittel erlaubt sind – nicht aber in Ländern der Europäischen Union.Schuld daran ist die sogenannten Novel-Food-Verordnung, die für EU-Länder
seit 1997 gilt. Seitdem muss für Lebensmittel, die bisher in der EU nicht
gebräuchlich waren, in sogenannten Unbedenklichkeits-Studien nachgewiesen
werden, dass sie den Verbrauchern nicht schaden. Geprüft wird etwa, ob sie
Allergien auslösen, krebserregend sind oder die Fruchtbarkeit beeinflussen.
Um das alles auszuschließen und eine Zulassung für den europäischen Markt
zu erhalten, sind sehr aufwendige und bis zu zehn Millionen teure
Untersuchungen nötig. Interesse an solchen Tests haben normalerweise
Lebensmittelkonzerne, die ein Produkt mit neuartigen Inhaltsstoffen auf den
Markt bringen wollen. Bei Stevia aber fehlt dieses Interesse seit 20 Jahren.
Aus Verbrauchersicht ist das kaum zu verstehen: Obwohl die Stevia-Süßstoffe
300-mal so süß sind wie Zucker, haben sie null Kalorien. Sie sind
unbedenklich für Diabetiker und fördern – anders als Zucker – nicht die
Entstehung von Karies. Obendrein ist Stevia im Gegensatz zu anderen
Süßstoffen auch noch natürlich. “Es wäre eine Bereicherung, wenn das auf den
Markt käme”, sagt Christa Lankes, die an der Universität Bonn Nutzpflanzen
erforscht.
Da auf eine uralte Pflanze wie Stevia, mit der schon die Ureinwohner
Paraguays ihren Mate-Tee süßten, aber niemand ein Patent anmelden kann,
wollte lange kein Konzern viel Geld für Untersuchungen ausgeben, von denen
nach der Zulassung auch alle Konkurrenten profitieren. “Bei künstlich
erzeugten Produkten wie dem Süßstoff Aspartam können die Hersteller für 20
Jahre ein Patent anmelden und es exklusiv nutzen”, sagt Udo Kienle, der an
der Universität Hohenheim seit 30 Jahren zu Stevia forscht.
Dass die EU-Kommission Anfang Dezember dennoch grünes Licht geben könnte,
liegt an zwei Dingen: Zum einen steht nicht die Pflanze Stevia vor der
Zulassung, sondern nur die Süßstoffe, die mittels chemischer Verfahren
daraus gewonnen werden. Hierfür ist die Unbedenklichkeits-Prüfung einfacher
und damit günstiger als für die gesamte Pflanze. Außerdem handelt es sich
bei dem Antragsteller um den riesigen internationalen Lebensmittelhändler
Cargill, der unter anderem den Getränkegiganten Coca-Cola beliefert. In den
USA verkauft er bereits die erste kalorienreduzierte Stevia-Limonade Sprite
Green.
In Deutschland könnten nach Ansicht von Stevia-Experte Kienle schon im
Dezember solche Produkte ausländischer Firmen in den Regalen stehen. Der
belgische Schokoladenhersteller Cavalier etwa will nach Testläufen in den
USA seine mit Stevia-Süßstoffen gesüßte Schokolade in Belgien, Deutschland
und den Niederlanden vertreiben.
Trotz der vielen positiven Eigenschaften von Stevia-Süßstoffen glaubt
Kienle aber nicht daran, dass die Hersteller künftig reihenweise ihre
Produkte anders süßen. “Der Geschmack hängt noch zu stark davon ab, wie gut
die Herstellung des Süßstoffes ist. Außerdem ist die Mindest-Aufnahmemenge
sehr gering angesetzt.” Diese Menge, auch ADI (acceptable daily intake)
genannt, gibt an, welche Menge eines Stoffes über die gesamte Lebenszeit
täglich gegessen werden kann, ohne dass die Gesundheit in Gefahr wäre. Die
europäische Lebensmittelbehörde EFSA hat im April entschieden, dass bis zu
vier Milligramm des Stevia-Süßstoffes Rebaudiosid A pro Kilogramm
Körpergewicht unschädlich sind. “Mit diesem Wert kann man nicht einmal ein
Getränk süßen”, sagt Kienle.
Was das für den Verbraucher heißt, kann man in der Schweiz beobachten.
Dort sind schon wieder die ersten Getränke mit Stevia-Süßstoffen aus den
Regalen verschwunden, weil ihnen auch noch Zucker und andere Süßstoffe
zugesetzt waren. “Für den Kunden entfällt so einfach der Nutzen.”